Zu welcher Szene gehört DJ Marcelle eigentlich? Zu keiner – und das soll so sein. Seit 30 Jahren arbeitet die DJ-Pionierin an ihrem eigenen Kunstentwurf.
Es begann mit einer ernüchternden Erkenntnis: Im kleinen Maastricht geboren, geriet Marcelle Van Hoof 1977 in den Strudel von Punk und war schon bald enttäuscht über die Stereotypien und den Stillstand der Szene. Dub, Post-Punk und was die späten siebziger, achtziger und neunziger Jahre noch an essentiellem Reisegepäck mitgaben, brachten sie dann an die Plattenspieler. Zu ihren frühen Einflüssen zählten The Raincoats und The Slits – und genauso wie deren Mitglieder mit ihrem Ansatz»Just play!« keine Musikerinnen im technischen Sinne waren, wollte Marcelle kein traditioneller DJ sein. 30 Jahre sind seitdem vergangen, in denen die Einzelgängerin ihre Interpretation des DJings mit selbst produzierten Radiosendungen und unzähligen Live-Sets in die Welt hinaus getragen hat. Einige ihrer Mixe wurden auf Vinyl veröffentlicht, gerade ist ihr viertes Album erschienen, eine mit subtilen Referenzen und überbordender Samplewut gespickte Doppel-LP.
»DJ Marcelle/Another Nice Mess Meets Most Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory« ist bei Klangbad erschienen, dem Label von Hans-Joachim Irmler, einem Gründungsmitglied der Krautrockband Faust. Der sperrige Titel ist eine Reminiszenz an die Größen des Dub, an King Tubby und Augustus Pablo. Marcelle reiht nicht einfach Stücke aneinander, sie will als Komponistin verstanden werden. Und tatsächlich erschafft sie aus einem riesigen Vinyl-Fundus neue Stücke, auf ihrer jüngsten Veröffentlichung gibt es keine Stelle, an der nicht drei simultan verwendete Turntables zu hören sind. Verschiedene Sound- und Bedeutungsebenen fließen dabei ineinander, jedes Detail zählt: Tiergeräusche, wirre Sprachsamples – alle Elemente werden sorgsam ausgewählt und angeordnet. »Es ist wie beim Taschepacken: Die dünn gepressten afrikanischen Platten werden zwischen die schweren Bässe gelegt.«
Ähnlich wie der experimentierfreudige kanadische DJ Kid Koala, der zu den wenigen zählt, die sonst eher unbeachtete Genres wie Delta Blues, Rocksteady oder Gospel in verworrene Dancefloor-Mixe einflechten, verfolgt Marcelle einen Ansatz des kompromisslosen Clashs. Nicht des kreischenden Effekts wegen. Auch nicht, um weißen europäischen Mittelschichtkids die Playlists mit vermeintlich exotischen Farbtupfern aufzupeppen. Ihr geht es um das leidenschaftliche Erweitern des eigenen musikalischen Horizonts und die Verbreitung einer Musik, die in den vornehmlich westlich geprägten Clubs immer noch randständig ist. Für Marcelle liegen die Fundamente des Dancefloor nicht nur in Detroit, Berlin und London, sondern ebenso in Kingston oder Nairobi.
Vor dem Hintergrund eines Dubstep-Beats vermengt sich ein Schweizer Bläserumzug mit einem syrischen Liebeslied und bleibt dabei ganz selbstverständlich tanzbar. »Ich sortiere die musikalischen Elemente nach ihrer Stimmung und ihrem Ton und konzentriere mich sehr auf Kleinigkeiten«, sagt sie. »So versuche ich, alles zu einem Stück zu verschmelzen und mich nicht an ein bestimmtes Genre zu klammern.« Im Bekenntnis, sich zu nichts zu bekennen, liegt eine der Qualitäten ihrer Musik: Marcelle bleibt auf der Suche. Kein Stil als Stil – am Ende von Marcelles Live-Sets ist häufig zu hören: »I got no style, I’m strictly roots.« Scout Niblett singt diese Hookline aus »Uptown Top Ranking« von Althea & Donna, einem Reggae-One-Hit-Wonder.
Marcelle spricht von Improvisation, sie wolle nicht nur das Publikum fordern, sondern auch sich selbst überraschen, sagt sie, die Aufnahmen im Studio bildeten keine Ausnahme. Live können diese spontan eingearbeiteten Ideen schiefgehen – aber wo Fehler sind, ist auch Entwicklung möglich. Ähnlich wie John Peel, mit dem Marcelle schon als Teenager befreundet war, sieht sie ihre Arbeit mit Musik als anhaltende Entdeckungsreise unter permanenter Spannung. Der vor zehn Jahren verstorbene Radio-DJ wird auf Marcelles Album gewürdigt, sie hat ein Textfragment seines Begräbnisprogramms gesampelt.
DJ Marcelle ist Einzelgängerin, sie gräbt sich gern ein, wirkt selbst bei der Präsentation ihrer Kunst distanziert. Und auf dem Fußballplatz, das nur nebenbei erwähnt, wird sie Diva genannt – wegen ihrer wenig mannschaftsdienlichen Spielweise. Deshalb ist es fast verwunderlich, dass sie für einige der neuen Stücke mit anderen Künstlern zusammengearbeitet hat. Auf zwei eher introvertierten Tracks ist die in Berlin lebende britische Sängerin Lianne Hall zu hören, deren Stimme sich hervorragend mit der düsteren, schwurbeligen Klangwelt Van Hoofs verbindet. Mit »Die Musik leiser?« findet sich zudem ein anschaulicher Beleg für die nötige Prise Selbstironie.
»Viele Künstler haben Angst, das Publikum vor den Kopf zu stoßen. Diese Dienstleisterrolle langweilt mich zutiefst. Ich fürchte das Publikum nicht, weil ich mich geistig von ihm distanziere. Freiheit im Denken und Tun ist mir unheimlich wichtig.« Es gibt nicht viele DJs, die weniger Rücksicht auf Geschmacksfragen und die Erwartungen des Publikums nehmen. Die Crowd ist bekanntlich unerbittlich: Wer mutig auflegt, erntet nicht selten eine leergefegte Tanzfläche vor dem Pult. Als Kunstform müsste das Mixen eigentlich deutlich mehr Impulse von Akteuren akzeptieren, die außerhalb der gängigen ökonomischen Strukturen wildern.
So gern Marcelle ihren Weg allein geht, ist sie trotzdem Mitglied von Female Pressure, einem Netzwerk von Künstlerinnen, das der männlichen Dominanz vor allem im Clubbetrieb entgegenwirken will. Ihre Haltung dazu ist ambivalent. Sie möchte nicht als Frau, sondern als Künstlerin gebucht werden, kennt die Machtverhältnisse im Kulturbetrieb bis in den DIY-Bereich aber allzu gut. »Das Geschlecht sollte heutzutage egal sein, das ist es aber nicht. Frauen müssen sich immer an die von Männern gemachten Regeln anpassen und werden ständig beobachtet, wie sie aussehen, sich verhalten, ob sie spielen können. Auf den Festivals, bei denen Frauen unter sich sind, spielen einige, die wirklich schlechte Musik machen, vor allem, weil sie eben Frauen sind. Andererseits gilt so etwas natürlich viel mehr für alle anderen Clubs und Veranstaltungen, wo gleich hunderte schlechte männliche Künstler auftreten!« Ihr Ausblick ist nicht besonders optimistisch: »Hinzu kommt eine falsche Political Correctness: Viele männliche Booker kritisieren gern, dass nicht vermehrt Künstlerinnen gebucht werden. Ändern tut sich aber gar nichts.«
Dass Marcelle ihre Kunst auch als politisches Statement versteht, tritt auf ihrem Album am deutlichsten durch Sprachsamples hervor. John F. Kennedy oder Angela Merkel kommen zu Wort, denen der ghanaische Sänger King Ayisoba antwortet: »If you want to be a leader, you have to be a good leader!« Ein vollgestopftes Manifest liegt der Platte nicht bei. »Mich langweilt die Selbstbezogenheit vieler Szenen, das ›Preaching to the Converted‹, das vegane Essen. Dass ich aus diesen Strukturen heraustrete, ist politisch motiviert. Wie sonst sollte man jemanden herausfordern?« Marcelle arbeitet darauf hin, dass jeder Einzelne etwas aus ihrer musikalischen Vorlage macht. Mit dem Körper, dem individuellen musikalischen Horizont, der eigenen gesellschaftlichen Rolle. »Musik sollte niemals nur Entertainment sein. Wer das nicht merkt, kann meine Musik nicht verstehen.«
Insofern ist DJ Marcelles Schaffen die wohltuende Nemesis eines seelenlosen Pop-Entwurfs, eines überkommenen Weltmusik-Zirkus, oberflächlicher Partyszene und dröger, loungiger Café-Del-Mar-Elektronik zugleich. Ein Sich-Herausziehen aus der Comfort Zone, auf dem Dancefloor und auf erstaunlich vielen weiteren Ebenen.