Nein, es ist nicht so, dass das Phänomen Chris Imler in der deutschsprachigen Welt ganz unbestaunt geblieben wäre. Sein Debut-Album „Nervös“ galt beispielsweise dem österreichischen Standard als „eine der spannendsten Platten des Jahres“, dem Berliner Stadtmagazin Zitty als „Berliner Platte des Jahres“. Auch dem Musikexpress entging nicht, dass hier „arg schräge, großartige Popmusik“ stattfand. Kultische Verehrung erfährt der Prophet aber nur im Ausland, vor allem in Frankreich und Italien. So ist Imler Stammstar auf der jährlichen Spielzeitabschlussparty im Centre Dramatique, dem [oder einem der…] wichtigsten Theater von Paris, im venezianischen Palazzo Grassi hatte er unlängst die Ehre, Laibach und Matthew Herbert an die Wand zu spielen.
Auch nach zeitgenössischen Vergleichspartnern muss man auswärts suchen, vorzugsweise in England. Künstlern wie Dean Blunt, Micachu and The Shapes oder den Sleaford Mods ähnelt Imler zwar im unmittelbaren Klangbild so wenig wie diese einander, aber er teilt mit ihnen eine Haltung zum Punk, die „das Feuer bewahrt, statt die Asche anzubeten“ (G.Mahler). Er sagt Ja zur fröhlichen Zumutung und zu einer anarchischen Spielart der Strenge, Nein zu vorauseilendem Kundendienst und versteinerten Widerstandsformeln. Er weiß, die Zeit ist ein bewegliches Ziel, und wer sie totschlagen will, muss die Waffen anpassen.
Auf „Nervös“ war das Mittel der Wahl die konsequente Reizüberflutung, die dort besungene „Achterbahn ins Glück“ das fürs Hörerlebnis programmatische Verkehrsmittel. Auf „Maschinen und Tiere“ heißt ein Lied „Fahrvergnügen“, es geht also von der Achter- auf die Autobahn. Die Bewegung bleibt rasant, aber sie wird gleichmäßiger. Die vorüberziehenden Klanglandschaften ragen majestätischer auf, Imlers Gabe sie herzustellen hat sich weiter vergrößert und mit ihr die Geduld sie uns zu zeigen.
Und wir bewundern Stück für Stück: erwähntes „Fahrvergnügen“ mit seiner orientalisch anmutenden, Hochstimmung und Bedrohlichkeit vereinenden Bombastik; das dagegen ganz kühle, chromglänzende „Küchenmesser“; das, wie übrigens einiges auf der Platte, leicht an den Brian Eno der späten Siebziger erinnernde schrägschöne „Richtige Stille kann niemand ertragen“; das entsprechend der in ihm enthaltenen titelgebenden Zeile animalisch und maschinell mitreißende „Appelliere“; oder das rhythmisch vertrackte, immer kurz vor einem wie aufreizend spielerisch vorenthaltenem Ausbruch brodelnde „Beach Balls“. Letzteres ist eins von zwei Instrumentalstücken und steht für seine verstärkte Tendenz zum Hypnotischen, Trackigen. Unangenehm artsy wird es aber auch in den abstrakteren Momenten nie, dafür ist Imler, auch wenn er mal das Maul hält, schon allein durch sein mit der Elektronik kunstvoll verschmolzenes ultrakommunikatives Schlagzeugspiel zu deutlich spürbar.
Wie es sich für einen Rock’n’Roll-Star gehört, ist seine Person integraler Bestandteil seines Werkes. Am besten zu besichtigen ist sie natürlich immer noch auf der Bühne (bei seinen eigenen turbulenten Shows oder als Drummer von Oum Shatt, Die Türen, Jens Friebe etc.). Die Zitty übertitelte ihren Imler-Artikel mit „Die Coole Sau“, etwas genauer könnte man vielleicht sagen, seine Aura changiert zwischen ewigem Straßenjungen und dubiosem Magier. Wie der selige Lemmy-Kilmister steht er für eine Sehnsucht nach einem kompromisslosen, glamourösen verrückten, gleichzeitig aber auch irgendwie unverkorkstem, jedem Bullshit wachsam begegnendem Leben. Er verschweigt aber auch nicht, wie fucking schwierig das sein kann. Und so beschreibt ein guter Teil seiner Texte die Steine die einem der Spätkapitalismus als Urgestein entgegensetzt: „Ich verlor meine Tasche auf dem Weg nach Wien/ich wollte mich retten vor dem Ruin (…) Hab ich verdient, nie zu kriegen, was ich verdiene/Habe ich den Krieg verdient, den ich kriege/Hab ich verdient zu entgleisen mit all meinen Zügen“ heißt es in „Fahrvergnügen“, und über das letztliche Ziel der Reise lässt das heiter Pessimistische „Nach Unten“ keinen Zweifel aufkommen: „Es geht nach unten/Es geht nach unten/Zu den Hunden vor dem Kundenzentrum angebunden“. Aber auch die Reise in den Abgrund kann ein Abenteuer sein, und einen besseren Begleiter als Chris Imler kann man sich wirklich schwer wünschen.
Jens Friebe, Juli 2018